10.11.2020 -
Mittlerweile fordert die Europäische Zentralbank für ihre Geldpolitik die Unterstützung durch die Finanzpolitik. Bis vor kurzem war es noch umgekehrt: Da riefen die Staaten nach der Hilfe der EZB.
„Unsere akkommodierende Geldpolitik baucht die Unterstützung der Finanzpolitik, und niemand von uns kann sich in der heutigen Zeit Selbstgefälligkeit leisten“, – dieser Satz stammt von keiner geringeren als der Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde. Beim Lesen dieser Zeilen muss man unweigerlich denken, etwas falsch verstanden zu haben. Naturgemäß ist es genau umgekehrt: Die Staaten wünschen sich billiges Geld von den Notenbanken, um ihre Defizite leichter finanzieren zu können, und die Notenbanken ermahnen die Staaten zu solider Haushaltsführung.
Nun aber bittet die Notenbank die Staaten, die tiefen Zinsen zu nutzen, um sich stärker zu verschulden und ihre Ausgaben zu erhöhen. Selbst der Internationale Währungsfonds, der traditionell eher vor einem Ausufern der Staatsverschuldung warnte, empfiehlt den Industrienationen, sich weniger Sorgen über ihre Verschuldung zu machen, sondern die tiefen Zinsen zu nutzen und das billige Geld in die Infrastruktur zu stecken.
Bereits jetzt haben die Staatsschuldenquoten historische Höchststände erreicht. Ende des Jahres dürfte die Bruttostaatsverschuldung in Japan bei mehr als 260 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in den USA bei rund 130 Prozent und in der Eurozone bei etwa 100 Prozent liegen. Die Sorge, dass die hohen Schulden auf Dauer nicht tragbar sind, ist zumindest theoretisch solange unberechtigt, wie die Zinsen bzw. Renditen von Staatsanleihen nahe null verharren. Denn mit Nullzinsen ist praktisch jedes Defizit und jeder Schuldenberg problemlos finanzierbar. So betrug das Haushaltsdefizit der USA im gerade beendeten Fiskaljahr am 30. September mehr als 3.000 Milliarden US-Dollar.
Investoren könnten befürchten, dass die riesigen Mengen neuer Anleihen, die zur Finanzierung der Haushaltsdefizite erforderlich sind, das Renditeniveau wieder steigen lassen. Trotz explodierender Staatsschulden ist die frei verfügbare Menge an umlaufenden US-Staatsanleihen zuletzt aber kaum gestiegen, weil die US-Notenbank wie ein riesiger Staubsauger überschüssiges Material aufkauft. Inzwischen hält sie über ein Fünftel aller ausstehenden US-Staatsanleihen. Im internationalen Vergleich ist dies sogar noch wenig. Angeführt wird das Feld seit Jahren von der Bank of Japan, die per 30. September 2020 etwa 46 Prozent aller ausstehenden japanischen Staatsanleihen auf ihre Bücher genommen hatte und vom Vereinigten Königreich, wo es immerhin 38 Prozent sind. Dies verdeutlicht auch, wie sehr die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik inzwischen verschwimmt.
Auch wenn Notenbanker weltweit die Unabhängigkeit ihrer Institutionen (noch) nicht als gefährdet betrachten und den Vorwurf der monetären Staatsfinanzierung weiterhin vehement von sich weisen, stellt sich die Frage, ob es für die Ankäufe von Staatsanleihen überhaupt noch eine Grenze gibt. Dass selbst auferlegte Beschränkungen nicht von Dauer sein müssen, hat nicht zuletzt die EZB gezeigt, als sie im Rahmen des Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) die für das bereits bestehende Public Sector Purchase Programme geltende Besitzobergrenze von 33 Prozent je Staatsanleihe fallen ließ. Wenn die Pandemie noch länger anhält, könnte das „grenzenlose“ PEPP als Staatsfinanzierung dienen.
Schon heute sind die Zinsausgaben keine große Belastung für den Staatshaushalt mehr. Wenn die Notenbanken auch zukünftig als Käufer der letzten Instanz bereitstehen und das Renditeniveau von Staatsanleihen niedrig halten, würde die Zinslast der Staaten nahezu bedeutungslos werden.