31.01.2023 -
Das Selbstbild einiger Bürger in Deutschland scheint sich zunehmend von den Realitäten zu entfernen. Ein Weckruf von Philipp Vorndran, Kapitalmarktstratege der Flossbach von Storch AG.
Wir Deutsche rühmen uns gerne für unsere ökonomische Potenz und Innovationskraft. „Made in Germany“ – ein ganz besonderes Gütesiegel. Wir küren uns selbst immer noch zum „Exportweltmeister“, obwohl wir es schon lange nicht mehr sind. Wir leben gerne in der Vergangenheit. Wir versuchen verkrampft zu bewahren, was sich nicht bewahren lässt, wenn wir stillstehen. Es ist fast so wie mit dem Fußball: Deutschland, ein Scheinriese.
Aus dem unerschütterlichen Selbstverständnis ökonomischer Stärke ist in den vergangenen Jahren ein, wie ich finde, fast schon unerträglicher Hang zur Besserwisserei erwachsen, der weit über die rein volkswirtschaftliche Sphäre hinausgeht und vermutlich nicht nur verstörend auf unsere Nachbarn und Partner wirkt, sondern auch destruktiv ist. Für Deutschland. Für ganz Europa.
Nehmen wir den „Klassiker“ als Beispiel: die Energiewende „Made in Germany“. Angela Merkel, die frühere Bundeskanzlerin, boxte sie über Nacht durch, nachdem 2011 ein Erdbeben samt Flutwelle verheerende Schäden an den Küsten Japans angerichtet hatte, wie etwa die Zerstörung des Atomkraftwerks in Fukushima.
Schnell war man sich damals in Berlin einig, dass Deutschland weg müsse von diesem vermaledeiten Atomstrom – und auch von den fossilen Brennstoffen. Und das möglichst schnell! Der nächste Nordsee-Tsunami könnte schon bald über die Kraftwerke in der norddeutschen Tiefebene hinwegrollen …
Das Problem an dem Plan war nicht unbedingt der Plan als solcher, sondern die Ignoranz, mit der er durchgeführt wurde. Nehmen wir den Zeithorizont: Es dürfte mindestens eine Generation brauchen, ehe sich ein Industriestandort, wie es Deutschland nun mal ist, überwiegend mit erneuerbaren Energien befeuern lässt. Vermutlich dauert es noch deutlich länger.
Und es war ein großer Fehler, den Plan durchzuboxen, ohne sich mit seinen internationalen Partnern, insbesondere seinen Nachbarn abzustimmen, mögliche Kooperationen auszuloten. Frei nach dem Motto: Seht her, wir wissen es ohnehin besser als ihr; wir denken an die zukünftigen Generationen, im Gegensatz zu Euch.
Das Heben des Zeigefingers scheint mit den Jahren zu einem deutschen Reflex geworden zu sein.
Weil der Energie-Plan überambitioniert war, musste sich Deutschland abhängig machen von der „Brückentechnologie“ Gas, und damit abhängig von Wladimir Putin. Auch wenn der Vorgänger Angela Merkels, Gerhard Schröder, seinen Freund aus Sankt Petersburg einen lupenreinen Demokraten nannte, wären Zweifel an dessen Motivation und Weltsicht erlaubt gewesen, spätestens seit der Krim-Annexion im Jahr 2014. Stattdessen wurde die deutsch-russische „Energie-Kooperation“ immer weiter vertieft.
Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar war und ist deshalb ein großes Problem für die deutsche Politik. Nicht umsonst hat es heftige Diskussionen darüber gegeben, wie weit die Sanktionen gegen Russland gehen dürfen und welche Waffen an die Ukraine zu liefern seien. Deutschland sorgt sich nicht zuletzt um seine Geschäftsbeziehungen nach Moskau. Die Uneinigkeit kostet Zeit; Zeit, die Europa nicht hat.
Wir Europäer müssen stattdessen zusammenstehen, wenn wir auf ein Ende des schrecklichen Krieges hinwirken wollen. Und wir müssen uns einig sein, wenn wir in Zukunft im Wettstreit zwischen den USA und China nicht zerrieben werden wollen. Wenn wir in der Welt wahrgenommen werden wollen als verlässliche, aber gleichermaßen selbstbewusste Partner, politisch wie ökonomisch. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder und deren Kinder und Enkelkinder in Frieden und Wohlstand aufwachsen können.
Deutschland muss dabei europäische Interessen vertreten – ohne es immer besser wissen zu wollen.