03.11.2020 -
Die US-Notenbank strebt ihr Inflationsziel von jährlich zwei Prozent nun als einen über mehrere Jahre kumulierten Zielwert an. Ist dieses Vorgehen auch ein Modell für die Eurozone?
Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hat einen neuen geldpolitischen Trend gesetzt: Sie orientiert sich bei der Ermittlung ihres Inflationsziels nun an einem über mehrere Jahre kumulierten Zielwert von jährlich zwei Prozent Konsumentenpreisanstieg. Das bedeutet: Wenn die Inflation längere Zeit unter zwei Prozent liegt, darf sie danach auch längere Zeit über zwei Prozent liegen, ohne dass die Notenbank eingreift. Dieser Zielwert wird also nicht mehr für ein einzelnes Jahr angestrebt, sondern über einen längeren Zeitraum, der zwar nicht genau definiert wird, aber mehrere Jahre betragen dürfte. Damit orientiert sich US-Notenbankchef Jerome Powell letztlich nicht mehr an einem symmetrischen Inflationsziel, dessen Überschreiten durch geldpolitische Maßnahmen vermieden werden soll.
Was bedeutet dieser neue geldpolitische Ansatz nun konkret? Die niedrigen Inflationsraten der vergangenen Jahre haben sozusagen ein „Inflationsguthaben“ aufgebaut, das es der US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve (Fed) ermöglicht, zukünftig auch ein Überschießen der Zweiprozentmarke zu tolerieren.
Die Notenbank kann im Fall deutlich steigender Inflationsraten also erst einmal abwarten und muss nicht umgehend gegensteuern und die Zinsen erhöhen. Diesen Schritt könnte die Fed so lange hinauszögern, bis sie der Ansicht ist, dass sich die Menschen an eine über zwei Prozent liegende Inflationsrate gewöhnen könnten und damit das Ziel der Preisstabilität gefährden. In den vergangenen fünf Jahren lag die Inflation fast durchgehend unter zwei Prozent. Das aufgebaute „Inflationsguthaben“ ist so groß, dass die Inflationsrate in den kommenden fünf Jahren durchschnittlich knapp 2,5 Prozent betragen könnte, bis es aufgebraucht wäre. Bezogen auf ein Jahr wären auch deutlich höhere Inflationsraten tolerierbar, sofern die Notenbank zu der Ansicht gelangte, dass dieser Anstieg temporärer Natur sei.
Dieser geldpolitische Trend könnte bald auch Europa erreichen. Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank, hat am 30. September angekündigt, dass auch die EZB ein „Price-Level-Targeting“ à la Fed analysieren werde. Aufgrund der historisch sehr niedrigen Inflationsraten in der Eurozone ergäbe sich hier ein noch höheres „Inflationsguthaben“, das erst dann abgebaut wäre, wenn die Inflation in den kommenden fünf Jahren im Durchschnitt 3,1 Prozent erreichen würde. Aber selbst ohne explizite Neudefinition des Inflationsziels gehen wir davon aus, dass ein Überschießen der Zweiprozentmarke auch in der Eurozone zukünftig nicht zwangsläufig zu einer restriktiveren Geldpolitik führen würde.