14.02.2020 -
Weltweit zittern die Anleger vor der Epidemie, die derzeit China lahmlegt. Zu Recht? Ein Gastbeitrag von Frank Sieren, der als Journalist und Autor seit 1994 in Peking lebt.
Täglich mehr Erkrankte, täglich mehr Tote. Der neue Virus aus Wuhan sorgt für immer neue traurige Rekorde – trotz der enormen und bisher in der Geschichte einmaligen Eindämmungsmaßnahmen der chinesischen Regierung. Nach Gesprächen mit Ärzten und Kadern wird jedoch immer mehr klar: Es macht wenig Sinn, aufgrund der Zahlen Verlaufskurven aufzustellen. Es bleibt immer nur ein beliebiger Ausschnitt der tatsächlichen Krankheit. Dabei geht es weniger um plumpe Vertuschungsversuche, sondern um neue medizinische Erkenntnisse einerseits, erweiterte Messmethoden und politischen Willen anderseits.
Ob, wann und wo also wieder gearbeitet, gereist und zur Schule gegangen wird, wann also das Virus besiegt sein wird oder auch nicht, ist eine überwiegend politische Entscheidung. Ob die derzeitigen Maßnahmen in China nötig waren, darüber entscheidet letztlich der Ständige Ausschuss des Politbüros unter der Führung von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Wenn Xi also unlängst „positive Veränderungen“ feststellte, dann war das eine solche Entscheidung.
Bei dem Corona-Virus gibt es nach der jüngsten Statistik (Stand 14.2.2020) mehr als 60.000 Infizierte und über 1.300 Tote, davon 99 Prozent in China. Zum Vergleich: Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts forderte allein die Influenzawelle 2017/2018 in Deutschland rund 25.100 Tote. Das war allerdings der höchste Wert in 30 Jahren. Der niedrigste lag bei 800. Die Maßnahmen bei uns damals hatten jedoch wenig mit dem zu tun, was wir gegenwärtig in China sehen.
Und für die Wintersaison 2019/20 schätzen die US-amerikanische Centers for Disease Control and Prevention (CDC) die Zahl der Grippekranken in China auf 15 Millionen. Davon mussten bisher 140.000 stationär behandelt werden. Über 8.000 Menschen sind daran gestorben. Im Langfristvergleich ist das kein besonders hoher Wert. Selbst wenn man die mehr als 1.300 Toten des Corona-Virus noch auf diese Zahl draufschlagen würde, wäre das kein extremer Ausschlag. Aber die Saison ist auch noch nicht zu Ende.
Das H1N1-Virus, das im April 2009 in den USA ausgebrochen ist, verursachte damals mehr als 1,6 Millionen Erkrankungen, 18.449 Menschen in 214 Ländern starben nach offiziellen Zahlen der WHO. Die CDC spricht sogar von 284.000 Toten. Für die US-Regierung war das damals kein Grund, auch nur annährend ähnliche Maßnahmen zu ergreifen wie die chinesische Regierung derzeit. Damals hat das kaum jemanden gestört, es gab nicht einmal Reisewarnungen für die USA. Während die Weltgesundheitsorganisation WHO damals von einer „Pandemie“ sprach, ist das bei dem Corona-Virus bislang nicht der Fall. Beide Reaktionen dürften als „extrem“ gelten. Die amerikanische als „extrem sorglos“, die chinesische als „extrem besorgt“.
China habe nunmehr „die Standards für kommende Epidemien gesetzt“, erklärte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. Dennoch hat die WHO eine internationale Notlage ausgerufen, weil man andere Länder schützen müsse, die nicht so gut auf das Übergreifen eines solchen Virus reagieren könnten wie China. Die WHO sprach allerdings bisher keine Reisewarnung für China aus und verhängte keine Handelsbeschränkungen.
Von einigen Ärzten habe ich gehört, ihr Eindruck sei, dass die chinesische Regierung alle möglichen Register ziehen würde, um für schlimmere Fälle und viel tödlichere Viren gerüstet zu sein. Präsident Xi würde so wichtige Erkenntnisse darüber bekommen, wie sich seine Bürger in Krisenzeiten verhalten und wie das Ausland reagiert. Wahrscheinlich hat er aus der Not eine Tugend gemacht. Getrieben von der Sorge, die Bevölkerung bekomme den Eindruck, die Regierung würde sich nicht genug kümmern und vertuscht viel, hat er den exakt gegenteiligen Weg eingeschlagen.
Das hat ihm politisch genutzt, zumindest bislang. Die Bevölkerung honoriert das forsche Durchgreifen. Seine Macht wurde gestärkt. China ist enger zusammengerückt im Kampf gegen den Virus.
Dass Xi den wirtschaftlichen Schaden dabei im Blick hat, ist sehr wahrscheinlich. Auch hier geht es um selbst gesetzte Ziele: China hat sich vorgenommen, die reale Wirtschaftsleistung von 2010 bis 2020 zu verdoppeln. Das Ziel wird mit einem Wachstum von nur 5,4 Prozent in diesem Jahr dennoch erreicht. Es würde mich nicht wundern, wenn der Wert am Ende des Jahres darüber liegt. Schließlich kann Xi jederzeit die Zügel wieder lockerer lassen. Dennoch kann ihm international niemand mehr vorwerfen, er habe nicht genug getan.
Das hält wiederum US-amerikanische Politiker nicht davon ab, das Virus für den Machtkampf zwischen China und den USA zu nutzen. In einem Alleingang und gegen den Rat der WHO hat Washington China inzwischen auf eine Stufe mit Afghanistan, Irak und Libyen gestellt, also mit Ländern, in denen laut US-Regierung „lebensbedrohliche Risiken wahrscheinlich sind.“ Das sei „keine Geste des guten Willens“, kommentierte ein Regierungssprecher in Peking.
Millionenfach haben sich zudem Chinesen in den sozialen Medien über eine Äußerung des amerikanischen Handelsministers Willbur Ross empört. Er sagte, das Virus „hilft die Entwicklung zu beschleunigen, dass mehr Jobs nach Nordamerika zurückkehren.“ Ein Sprecher seines Ministeriums fügte später hinzu, dass man nun zwar zuerst das Virus bekämpfen müsse, aber es sei auch „wichtig, die Konsequenzen zu erwähnen, die es hat, mit einem Land Geschäfte zu machen, das eine lange Geschichte hat, reale Risiken gegenüber seiner Bevölkerung und dem Rest der Welt zu verschleiern.“
Doch die amerikanischen Aktienmärkte zeigen sich weder von der Reaktion der US-Politik noch von der Epidemie sonderlich beeindruckt. Der Hongkonger Hang Seng Index hat dagegen anfangs nachgegeben. Der Einbruch ist aber kein besonders großer Ausreißer nach der Wellenbewegung in den vergangenen Monaten. Am vierten Dezember, zehnten Oktober und dritten September waren die Wellentäler tiefer als am 31. Januar, dem bisherigen Tiefststand nach dem Ausbruch der Krankheit.
Seither geht es bergauf. Der US-Aktienindex Dow Jones Industrials und der deutsche Aktienindex DAX erreichten in diesen Tagen sogar ihr Allzeithoch. Die Märkte gehen also offensichtlich davon aus, dass das Virus nur eine kurze vorübergehende Erscheinung ist. Zu dieser Einschätzung kommt auch der Internationale Währungsfonds IWF. Dort spricht man von einer kurzen V-förmigen Entwicklung. Selbstverständlich kauft nun niemand ein Auto. Aber genauso selbstverständlich wird der Kauf nachgeholt, sobald die Luft wieder rein ist.
Auch bei einem Vergleich mit dem Sars-Virus erscheint ein anhaltender Wachstumsschock unwahrscheinlich: Meine Erinnerung an Sars vor 17 Jahren war, dass die Epidemie im ausgehenden Frühling genauso schnell wieder verschwunden war, wie sie zuvor über China hereingebrochen war. Tatsächlich sieht man in den Wirtschaftsstatistiken von damals einen kurzen heftigen Einbruch. Während der Sars-Epidemie 2003 haben sich zum Beispiel die Einzelhandelsverkäufe im Mai von 9,2 Prozent im Jahr davor mal eben mehr als halbiert. Im Juni lagen sie schon wieder bei 8,3 Prozent und im Juli bei 9,8 Prozent. Das Gesamtjahr endete damals mit einer leichten Steigerung von 8,8 Prozent im Jahr 2002 auf 9,1 Prozent. Auch das Gesamtwachstum in China gab im ersten Quartal 2003 um zwei Prozentpunkte auf 9,2 Prozent nach. Im dritten Quartal erholten sich die Werte. Doch das Gesamtjahr endete mit zehn Prozent Wachstum gegenüber 9,1 Prozent im Jahr 2002. Die Frage, die natürlich nicht beantwortet werden kann, lautet: Wir hoch wäre das Wachstum gewesen, wenn es Sars nicht gegeben hätte?
Heute ist die Lage der chinesischen Wirtschaft nur schwer mit der Situation vergleichbar, in der sich die Ökonomie des Landes vor 17 Jahren befand. So ist der Anteil Chinas am weltweiten Bruttoinlandsprodukt derzeit mit 16,5 Prozent mehr als drei Mal so hoch als zu Zeiten von Sars. Der Anteil der Autoproduktion ist von sieben auf 27 Prozent gestiegen. Der Anteil am Welttourismus stieg von drei auf 20 Prozent, der Anteil am Welthandel stieg von fünf auf 13 Prozent.
Gleichzeitig ist die chinesische Wirtschaft unabhängiger von der Weltwirtschaft geworden. Der Anteil der Serviceindustrie ist seit 2003 um zwölf Prozent auf 54 Prozent gestiegen und diese erholt sich üblicherweise besonders schnell. Damit könnte der Schaden für die chinesische Wirtschaft geringer ausfallen als bei Sars.
Im Umkehrschluss müsste der Schaden für die internationale Wirtschaft hingegen relativ gesehen höher ausfallen, da viele Volkswirtschaften heute stärker von China abhängen als damals. Doch diese Überlegungen bleiben am Ende Spekulationen. Meine persönliche Sicht der Dinge: Es wird der chinesischen Wirtschaft langfristig wohl nicht sehr viel passieren, weil die chinesische Regierung genug Spielraum hat, die durchsackende Wirtschaft zügig stimulieren. Das hilft auch der Weltwirtschaft. Schon 2008/9 war das so: Das Konjunkturprogramm der Chinesen hat der Weltwirtschaft wieder auf die Beine geholfen. Dagegen ist der Virus ein vergleichsweise kleines Problem.
Zur Person: Frank Sieren ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor und berichtet seit knapp 25 Jahren aus China, unter anderem für das Handelsblatt.