11.06.2019 -
Wenn die Zinsen fallen, werden sie auch wieder steigen. Sicher? Investoren sollten alte Gewissheiten hinterfragen. Alles andere wäre gefährlich, erklärt Philipp Vorndran.
In der Schule habe ich in den 1970er-Jahren im Erdkunde-Unterricht gelernt, dass der Aralsee in der Sowjetunion einer der größten Binnenseen der Welt sei; er hatte eine Fläche von mehr als 60.000 Quadratkilometern und war damit hundertmal so groß wie der Bodensee! Und heute? Heute heißt die Sowjetunion in diesen Breitengraden Kasachstan und Usbekistan. Geblieben sind gerade einmal 8.000 Quadratkilometer Wasserfläche. Das Wasser weicht, ohne je wieder zurückzufließen. Aus einem gewaltigen See sind mehrere kleine geworden, die – dazu braucht es vermutlich keinen Propheten – noch kleiner werden. Die Existenz der Menschen, die seit Generationen von der Fischerei leben, ist bedroht. Sie sehnen sich nach Kontinuität, noch immer – vergeblich.
Was das mit den Finanzmärkten zu tun hat? Sehr viel sogar. Auch Investoren vertrauen auf die Kontinuität des Zeitenlaufs, nicht wenige zumindest. Strukturbrüche kommen in ihrer Welt nicht vor. Und das kann gefährlich sein. Schauen wir uns Grafik 1 an, die Entwicklung der Rendite japanischer Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Zunächst ging es rauf und runter, wieder rauf und runter. Wenn wir uns den gewählten Zeitabschnitt anschauen müssten und man uns fragte, in welche Richtung sich die Rendite wohl als Nächstes bewegen würde, hieße die Antwort in den meisten Fällen vermutlich „nach oben“. Ich kann mich noch sehr gut an diese Zeit erinnern.
Tatsächlich haben viele Investoren damals so gedacht, warum auch nicht, der Chartverlauf und die damaligen Erfahrungen haben genau das angezeigt. Zinsen steigen und fallen, je nachdem, wie das konjunkturelle Umfeld aussieht. Nehmen wir also Grafik 2, um zu schauen, wohin die Reise wirklich ging, und siehe da, es ging nur noch in eine Richtung, nämlich nach unten. Und weiter nach unten. Und weiter. Genau dort ist die Rendite bis heute geblieben. Das Ergebnis einer ökonomischen Katastrophe, von Menschenhand gemacht. Anders als bei Naturkatastrophen wird den ökonomischen aber weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
In Japan haben sich in den vergangenen Jahrzehnten die wichtigsten Parameter massiv verschoben: Die Gesellschaft altert, die Wirtschaft wächst kaum noch, und die Verschuldung steigt – das eine bedingt dabei das andere. Die Notenbank musste einspringen, um die Wirtschaft zu stützen und die Schulden dauerhaft finanzierbar zu halten. Die Folge waren ein massiver Renditeverfall bei Anleihen und eine dauerhafte Abhängigkeit der Schuldner vom billigen Geld. Japan ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass wir eben nicht in einer kontinuierlichen Welt leben, sondern einer diskontinuierlichen.
Was kümmert uns das Tausende von Kilometern entfernte Japan, wird manch einer an dieser Stelle vielleicht denken. Weit weg, eine ganz andere Volkswirtschaft mit ganz anderen Problemen und damit überhaupt nicht vergleichbar mit denen in Europa. Ist das wirklich so einfach?
Kommen wir zu Grafik 3, bei der wir beispielhaft den Renditeverlauf der deutschen Bundesanleihe, ebenfalls die zehnjährige, über den der japanischen gelegt haben.
Und siehe da, die Ähnlichkeit ist verblüffend und beunruhigend zugleich. Besonders für all jene, die noch immer darauf vertrauen, dass die Zinsen in Europa, allen voran in Deutschland, irgendwann wieder deutlich steigen werden. Tun Sie das? Wir sollten uns besser nicht darauf verlassen.
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